Bertha Pappenheim, Sisyphus
Sisyphus: Gegen den Menschenhandel | Sísifo: contra la trata de blancas |
Die »Immoralität der Galizianerinnen«
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La «inmoralidad de las galicianas»
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Sie sprachen und sprechen von der »Immoralität der Galizianerinnen«, als ob das eine ganz exceptionelle für sich bestehende Abnormität einer besonderen Menschenklasse wäre. Ja, wissen die Herren nicht oder wollen sie es nicht wissen, daß unter den deutschen, hier heimatberechtigten jüdischen Mädchen dasselbe Sinken des moralischen Niveaus zu bemerken ist – dasselbe Sinken wie unter allen Mädchen, die durch die bestehenden sozialen Verhältnisse moralisch haltloser und schwächer geworden sind? Einst war es ein unerhörtes Ereignis, wenn ein jüdisches Mädchen außerehelich ein Kind gebar, – ein Ereignis, das so wie die Abtrünnigkeit vom Glauben, die Taufe einen Romanen- oder Novellenstoff bildete. Heute sind das gar nicht seltene, sondern sehr oft wiederkehrende Fälle.
Die Sittlichkeit der jüdischen Frauen und Mädchen, dieser Pfeiler, auf dem die unauslöschliche Ausdauer und Regenerationskraft unseres Volkes beruht, sie ist tatsächlich bedroht – aber nicht von den Galizierinnen allein. Die Herren sprachen auch in beiden Sitzungen von einer drohenden Gefahr, von Schutzmaßregeln, abwehrenden und vorbeugenden, den Galizierinnen gegenüber. Nach dem Grunde und der Ausdehnung des Übels fragte Niemand. Das ist aber kein guter Arzt, der die Symptome kurieren will und nicht nach Art und Sitz der Krankheit forscht. |
Hablaron y hablan de la “inmoralidad de las galicianas”, como si se tratara de una anormalidad bastante excepcional de una clase especial de personas. Sí, ¿no saben los señores, o no quieren saber, que entre las muchachas judías alemanas que tienen derecho a un hogar aquí, se nota el mismo descenso del nivel moral, el mismo descenso que entre todas las muchachas que se han vuelto moralmente insostenibles y más débiles debido a las condiciones sociales existentes? Antaño era un acontecimiento inaudito que una chica judía diera a luz un hijo fuera del matrimonio, un acontecimiento que, como la apostasía o el bautismo, era materia de novelas o folletines. Hoy en día no son en absoluto raros, sino que son casos muy recurrentes.
La moralidad de las mujeres y las niñas judías, ese pilar sobre el que descansa la resistencia indeleble y el poder regenerador de nuestro pueblo, está ciertamente amenazada, pero no solo por las galicianas. Los señores también han hablado en ambas asambleas de un peligro inminente, de medidas de protección, defensivas y preventivas, frente a las galicianas. Nadie ha preguntado por la causa y el alcance del mal. Pero no es buen médico el que pretende curar los síntomas y no investiga la naturaleza y el foco de la enfermedad. |
Wenn man sich nun die Mühe gibt, so im allgemeinen nach der Ursache der zunehmenden Immoralität unter den Frauen und Mädchen zu forschen, dann lautet die Antwort der Geistlichen aller Konfessionen meist: es ist der Mangel an Frömmigkeit. Im ersten Augenblick erscheint der Grund auch stichhaltig. Bei näherem Zusehen aber kann man erkennen, daß es die reaktionäre Partei ist, die unter dem Ruf nach Sittlichkeit die persönliche und Glaubensfreiheit unterdrückt, um ihre Privat-, ihre politischen und Spezialinteressen dabei zu verfolgen. Sehr augenfällige Erscheinungen, die von den Bekennern strengster Observanz in allen Konfessionen nicht geleugnet werden können, sprechen dagegen, daß die abnehmende »Frömmigkeit« die zunehmende Immoralität bedingt. Und so sehen wir denn auch, daß Galizien, das Reservoir der jüdischen Orthodoxie, seit vielen Jahren an Ungarn, Rumänien, London und viele Städte Amerikas einen bedeutenden Teil ihres Bedarfs an Mädchen »liefert«. Die Frömmigkeit, wie sie die orthodoxe Geistlichkeit verlangt, scheint nach dieser Richtung hin kraftlos zu sein und machtlos bleibt auch ihr Einfluß in den Asylen und Magdalenenhäusern, die mit ihren Besserungsversuchen recht klägliche Resultate aufweisen.
Ein einziges Haus in Chicago, das sich die Rettung gefallener jüdischer Mädchen ohne jeden religiösen Zwang zur Aufgabe macht, hat relativ den anderen confessionellen Einrichtungen gegenüber bessere Resultate. Als zweiten Grund nach der landläufigen Auffassung nennen die Herren – die Damen in ihrer behaglichen Indolenz befassen sich mit so schmutzigen Dingen nicht – also die Herren in ihrer patentierten Logik sagen: »Die Mädchen sind schlecht, weil sie schlecht sind.« Nun, das ist einfach nicht wahr. Daß es viele zügellose, schlechte Elemente in der Gesellschaft gibt, und wenn nicht energisch dagegen gearbeitet wird, späterhin noch viel mehr geben wird, ist wahr. Aber die Mädchen, die heute schlecht sind, sind schlecht, weil die Gesellschaft sie schlecht werden ließ und ihnen, so lange sie schwankten, so lange sie auf der Scheide zwischen gut und schlecht standen, nicht half, gut zu werden. |
Si uno se toma la molestia de investigar la causa de la creciente inmoralidad entre las mujeres y las chicas en general, la respuesta del clero de todas las confesiones suele ser: es la falta de religiosidad. A primera vista, la razón parece válida. Sin embargo, si se examina más de cerca, se puede ver que es el partido reaccionario el que, bajo la llamada a la moralidad, suprime la libertad personal y religiosa para perseguir sus intereses privados, políticos y especiales. Fenómenos muy llamativos, que no pueden ser negados por los confesores de la más estricta observancia en todas las confesiones, hablan en contra de que la deficiente “religiosidad” sea causa de la creciente inmoralidad. Y así vemos que Galicia, la reserva de la ortodoxia judía, lleva muchos años “abasteciendo” a Hungría, Rumanía, Londres y muchas ciudades americanas con una parte importante de su demanda de chicas. La religiosidad, tal como la exige el clero ortodoxo, parece ser impotente en este sentido, e impotente sigue siendo también su influencia en los asilos y las casas de Magdalenas, que muestran resultados bastante lamentables con sus intentos de mejora.
Un solo hogar en Chicago, que tiene la misión de rescatar, sin ninguna coacción religiosa, a las niñas judías caídas, tiene resultados relativamente mejores que las otras instituciones confesionales. La segunda razón que aduce la opinión popular es que los señores (las señoras en su cómoda indolencia no se preocupan por asuntos tan sórdidos), así que los señores en su lógica patentada dicen: “Las chicas son malas porque son malas.” Pues bien, eso no es cierto. Que hay muchos elementos licenciosos y malos en la sociedad, y que si no se trabaja enérgicamente contra ellos, habrá muchos más después, es cierto. Pero las chicas que son malas hoy en día lo son porque la sociedad las dejó convertirse en malas y no las ayudó a convertirse en buenas mientras vacilaban, mientras se mantenían en los límites entre el bien y el mal. |
Unter helfen verstehe ich natürlich keine Hilfe im Sinne von Wohltätigkeit, sondern ich verstehe darunter: Rat, Schutz, Förderung und das Zugeständnis aller rechtlichen und politischen Mittel, deren jeder Mensch, Mann und Frau, zur Aufrechterhaltung seiner physischen und sittlichen Existenz bedarf. Verfolgen Sie doch einmal den Lebenslauf eines solchen Geschöpfes, über das die satte ungeprüfte Wohltätigkeit den Stab bricht (Fälle, in denen übermäßige Wohltätigkeit ganze Familien üppig und träge macht, nehme ich natürlich aus). Ein Mädchen, gleichviel ob es in Whitechapel, in einem Hinterhaus in Berlin oder in einem galizischen Dorfe ist, kommt zur Welt. Erlassen Sie es mir, Ihnen das Milieu zu schildern. Körperlich ungepflegt nehmen die Sinne nur Wahrnehmungen auf, die der gesunden Entwicklung des Kindes nach jeder Richtung hinderlich sind. Die Schlafräume sind überfüllt, und das Ringen zur Existenz und um die Existenz spielt sich als einziger Lebensinhalt vor dem Kinde ab. Auch wie es um Unterricht und Ausbildung, um Erziehung und Beaufsichtigung bestellt ist, wissen Sie. – Alles ungenügend im Verhältnis zu den Anforderungen, die das Leben späterhin unweigerlich stellt. Was der Staat in Deutschland bietet, ist der Schulzwang bis zum 14. Lebensjahre. Daß in diesem Alter ein Mädchen geistig reif zur Selbstbestimmung und erwerbsfähig sein kann, wird niemand ernstlich behaupten können, und doch ist mit dem zurückgelegten 14. Lebensjahre gesetzlich das Schutzalter für Mädchen überschritten und in vielen tausend Fällen tritt mit demselben Augenblick auch die Notwendigkeit des Broterwerbes an das Mädchen heran. Aber nehmen Sie auch die günstigeren Fälle an, in denen den Mädchen eine Lehrzeit zugestanden wird als Näherin, Schneiderin, Modistin, Ladnerin etc. etc., auf allen Erwerbsgebieten, von der Fabrikarbeiterin bis zur Lehrerin und Beamtin, ist die Arbeit der Frau bei gleicher Leistung noch schlechter bezahlt als die des Mannes. Es gibt Lohnsätze und Gehälter, die geradezu empörend sind. Wenn nun ein nach jeder Richtung schwaches, mangelhaft erzogenes, ungenügend vorgebildetes Mädchen bemerkt und erfährt, daß es einen Erwerb gibt, der ihr mühelos ein sorgloses, bequemes Dasein unter verlockenden Äußerlichkeiten bietet, da ist es nur zu begreiflich, ja entschuldbar, wenn sie das Martyrium der Anständigkeit nicht länger auf sich ladet. | Por ayuda, por supuesto, no me refiero a la ayuda en el sentido de la beneficiencia, sino que entiendo que significa: asesoramiento, protección, estímulo y la concesión de todos los medios legales y políticos de los que todo ser humano, hombre y mujer, requiere para el mantenimiento de su existencia física y moral. Solo hay que seguir el desarrollo de la vida de una criatura así sobre la que la caridad pródiga e inexplicable ha tomado la batuta (excluyo, por supuesto, los casos en los que la caridad excesiva convierte a familias enteras en pródigas e indolentes). Una niña nace, ya sea en Whitechapel, en una casa trasera de Berlín o en una aldea galiciana. Permitan que sea yo quien describa el entorno. Físicamente descuidado, los sentidos solo captan percepciones que son un obstáculo para el desarrollo saludable del niño en todas las direcciones. Los dormitorios están superpoblados, y para el niño la lucha por y para la subsistencia es el único propósito de la vida. También es conocido cómo son las cosas en la enseñanza y educación, crianza y supervisión. Todo es inadecuado en relación con las exigencias que la vida inevitablemente hará más adelante. Lo que el Estado ofrece en Alemania es la escolarización obligatoria hasta los 14 años. Nadie puede afirmar seriamente que a esta edad una niña puede ser lo suficientemente madura mentalmente para la autodeterminación y capaz de tener un empleo remunerado, y sin embargo la edad de consentimiento para las niñas se supera legalmente a los 14 años, y en muchos miles de casos la necesidad de ganarse la vida le llega a la niña en ese mismo momento. Pero si tomamos también los casos más favorables en los que se concede a las muchachas un período de aprendizaje como costureras, modistas, sombrereras, comerciantes, etc. etc., en todos los campos de empleo, desde los obreros de las fábricas hasta los maestros y funcionarios, el trabajo de las mujeres sigue estando peor pagado que el de los hombres por el mismo trabajo. Hay sueldos y salarios que son francamente escandalosos. Cuando una muchacha, débil en todos los aspectos, inadecuadamente educada, insuficientemente formada, se da cuenta y aprende que hay una ocupación que le ofrece sin esfuerzo una existencia despreocupada y confortable entre exteriores tentadores, es más que comprensible, incluso excusable, que se distancie del martirio de la respetabilidad. |
Für die galizischen Mädchen liegen die Verhältnisse noch schlechter. In Galizien gibt es keinen Schulzwang. Die Mädchen, nicht nur sozial, sondern auch religiös minderwertiger als die Knaben, dürfen zwar in die Schule gehen, es geschieht aber nur sehr unregelmäßig, und soweit überhaupt von Unterricht die Rede sein kann, ist er ganz planlos. Dazu kommt noch, daß die Mädchen im Kindesalter schon verlobt werden. Empfinden sie dann heranwachsend einen Widerwillen gegen den ihnen bestimmten Mann, dann nehmen sie entweder die Zuflucht zur Taufe, oder sie laufen in die weite Welt, um endlich auf illegalem Wege demselben Schicksal zu verfallen, dem unter legaler Form sie zu entrinnen hofften.
Was ich ihnen bis jetzt in allerdings nur sehr flüchtigen Strichen zu zeichnen versuchte, ist die soziale Begründung jener Erscheinungen, die als »zunehmende Immoralität« die Veranlassung zu vielfachen Erwägungen gibt. Vielleicht haben sie zwischen meinen Erörterungen die verzweigten Wurzeln der Frauenfrage gesehen, vielleicht auch in dämmriger Ferne die Ziele der Frauenbewegung. Die extremsten Erscheinungen, die stellenweise auf der Oberfläche des Gemeinlebens erscheinen, erschrecken zum Glück auch wohlmeinende Männer. Sie sehen und erkennen die Größe der Gefahr, die die Häufung dieser Erscheinungen für die Gesamtheit ergibt, und aus ihren Reihen erwachsen den Frauen und ihren Bestrebungen heute schon eine recht stattliche Zahl von Mitarbeitern, allerdings meist nur so weit es sich um gewisse äußere Reformen handelt. Der Zusammenhang der Sittlichkeitsfrage mit der Wohnungsfrage, mit der Lohnfrage, mit der Erziehungsfrage ist ja leicht zu fassen. |
Para las galicianas, la situación es aún peor. En Galicia no existe la escolarización obligatoria. A las niñas, que no solo son socialmente sino también religiosamente inferiores a los niños, se les permite ir a la escuela, pero esto solamente ocurre de forma muy irregular, y en la medida en que se puede hablar de enseñanza, esta carece completamente de planificación. A esto se añade que las niñas se comprometen a casarse de pequeñas. Si al crecer sienten aversión por su futuro marido, o bien se refugian en el bautismo, o bien huyen por el ancho mundo para caer finalmente por medios ilegales en el mismo destino del que esperaban escapar de forma legal.
Lo que he tratado de esbozarles hasta ahora, aunque con trazos muy someros, es la justificación social de estos fenómenos que, como “inmoralidad creciente”, dan lugar a muchas consideraciones. Tal vez hayan visto las raíces ramificadas de la cuestión de la mujer entre mis discursos, tal vez haya visto los objetivos del movimiento de las mujeres en la tenue distancia. Afortunadamente, los fenómenos más extremos que aparecen puntualmente en la superficie de la vida común asustan incluso a los hombres bien intencionados. Ven y reconocen la magnitud del peligro que la acumulación de estos fenómenos supone para el conjunto, y de sus filas las mujeres y sus esfuerzos ya están ganando un número bastante considerable de colaboradores, aunque en su mayoría solo en lo que se refiere a ciertas reformas externas. La conexión de la cuestión de la moralidad con la cuestión de la vivienda, con la cuestión de los salarios, con la cuestión de la educación es fácil de entender. |